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Migräne bei kleinen Kindern – erkennen, verstehen, begleiten

  • Autorenbild: Johanna
    Johanna
  • 5. Sept.
  • 6 Min. Lesezeit

Kopfschmerzen bei Kindern sind keine Seltenheit. Treten sie jedoch wiederholt auf, stellt sich schnell die Frage: Handelt es sich um Migräne?


Migräne kann bereits im Vorschulalter beginnen. Studien zeigen, dass bis zu 4 Prozent der Vorschulkinder betroffen sind. Da kleine Kinder ihre Beschwerden oft nicht eindeutig benennen können, ist die Diagnose schwierig und zieht sich manchmal über Jahre.


In diesem Artikel erfährst Du, wie Du Migräne bei Deinem Kind erkennst, welche Ursachen eine Rolle spielen und wie ein Alltag trotz Migräne gelingen kann.



Migräne Kind
© Wix

1. Was ist Migräne eigentlich?


Migräne ist keine gewöhnliche Form von Kopfschmerz, sondern eine komplexe neurologische Erkrankung. Im Kleinkindalter kann es auch sein, dass der Kopfschmerz nicht das vorrangige Symptom ist.


Man kann sich das Gehirn von Menschen mit Migräne wie ein besonders empfindliches Alarmsystem vorstellen. Es reagiert stärker auf Reize, die andere kaum wahrnehmen, etwa Licht, Geräusche, bestimmte Gerüche, Stress oder auch Veränderungen im Schlafrhythmus.


Während einer Attacke geraten verschiedene Prozesse im Körper aus dem Gleichgewicht:

  • Nervenzellen reagieren überempfindlich und senden vermehrt Signale, wodurch das Nervensystem überlastet wird.

  • Über den Trigeminusnerv werden Botenstoffe freigesetzt, darunter CGRP. Dieser Stoff führt zu einer Weitung der Blutgefäße und einer kleinen Entzündung der Hirnhäute, die Ursache für den typischen, pulsierenden Schmerz.

  • Auch das Serotonin-System ist beteiligt: Ein Absinken des Serotoninspiegels macht die Blutgefäße noch empfindlicher und verstärkt die Symptome.

  • Zudem verändert sich die Verarbeitung von Sinnesreizen, weshalb Kinder Licht, Geräusche oder Gerüche während der Attacke oft kaum ertragen können.

Eine Attacke verläuft in Phasen:

  • Vorbotenphase: Stimmungsschwankungen, Müdigkeit, Heißhunger oder Konzentrationsprobleme Stunden bis Tage vor der Attacke.

  • Aura: Bei etwa 10 bis 15 Prozent der Kinder treten Sehstörungen, Kribbeln oder Sprachprobleme auf.

  • Kopfschmerzphase: Heftige, meist pulsierende Schmerzen, bei Kindern oft beidseitig, Dauer 1 bis 4 Stunden. Teils mit Bauchschmerzen, Übelkeit, Müdigkeit, Blässe oder Gesichtsröte.

  • Rückbildungsphase: Erschöpfung, Konzentrationsschwäche, Schlafbedürfnis.



2. Zahlen und Häufigkeit


  • Migräne ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter.

  • Viele Kinder, die früh Migräne entwickeln, behalten diese Neigung bis ins Erwachsenenalter, auch wenn sich die Häufigkeit bei einigen mit der Zeit abschwächt.

  • Früh beginnende Migräne verläuft oft ungünstiger: In Langzeitbeobachtungen wurden nur 30 Prozent nach 15 bis 21 Jahren komplett kopfschmerzfrei, wenn die Erkrankung schon im Vorschulalter begann (Marchese et al., 2020; Rustichelli et al., 2019).



3. Anzeichen bei kleinen Kindern unter 6 Jahren


Studien zeigen, dass die offiziellen Diagnosekriterien bei Kindern unter 6 Jahren schwer anzuwenden sind. Über 70 Prozent erhielten in einer Studie keine eindeutige Diagnose, da Attacken oft kürzer als eine Stunde dauerten und klassische Begleitsymptome wie Lichtempfindlichkeit oder Übelkeit fehlten (Torriero et al., 2017).


Im Kleinkind- und Vorschulalter zeigen sich Migräne-Symptome oft anders als bei älteren Kindern:


  • Häufig beidseitige Schmerzen im Stirnbereich, 

  • Dauer meist nur 1 bis 2 Stunden, teils auch unter 1h

  • Übelkeit, Erbrechen oder Bauchschmerzen, manchmal ohne Kopfschmerzen, was zu Verwechslungen mit Magen-Darm-Beschwerden oder Blinddarmentzündungen führen kann. Auch bekannt als abdominale Migräne.

  • Schwindelattacken.

  • Seltene Phänomene wie das Alice-im-Wunderland-Syndrom: Größenveränderungen von Gegenständen, verzerrte Wahrnehmung, veränderte Geräusch- und Tastempfindungen oder Halluzinationen.

  • Vermehrter Harndrang

  • Rückzug, Verwirrtheit oder Appetitlosigkeit können ebenfalls Zeichen sein.

  • Eine positive Familienanamnese ist ein weiterer Hinweis: Hat ein Elternteil Migräne, steigt das Risiko beim Kind deutlich.


Wichtig ist: Nimm Dein Kind ernst. Migräne ist keine Einbildung, sondern eine echte Erkrankung.



4. Gibt es Migräne bei Babys?


Ob Babys tatsächlich Migräne haben können, ist wissenschaftlich nicht abschließend geklärt. Sie können ihre Beschwerden noch nicht in Worte fassen, und die typischen Diagnosekriterien, wie Schmerzqualität, Dauer oder Begleitsymptome wie Lichtempfindlichkeit, lassen sich in diesem Alter nicht anwenden.


Dennoch vermuten Fachleute, dass bestimmte wiederkehrende Beschwerden im Säuglings- und Kleinkindalter frühe Vorboten einer späteren Migräne sein könnten. Dazu zählen vor allem anfallsartiges Erbrechen, sogenannte infantile Koliken oder eine ausgeprägte Neigung zu Schwindel und Bewegungskrankheit im Kleinkindalter. Diese Beobachtungen legen nahe, dass Migräne möglicherweise schon sehr früh beginnt, auch wenn ein eindeutiger wissenschaftlicher Nachweis bisher fehlt und noch mehr Forschung notwendig ist.


Wichtig ist:

  • Nicht jedes Baby mit Koliken oder häufigem Spucken entwickelt später Migräne. Koliken können genauso gut Teil einer normalen Entwicklung sein oder Ausdruck anderer Ursachen.

  • Entscheidend ist eine liebevolle, geduldige Beobachtung über längere Zeiträume hinweg, ohne in Panik zu verfallen.

  • Gleichzeitig zeigen Studien, dass Kinder mit solchen frühen Auffälligkeiten häufiger im späteren Leben Migräne entwickeln. Daher lohnt es sich, aufmerksam hinzuschauen und bei anhaltenden oder besonders starken Beschwerden ärztlichen Rat einzuholen.



5. Diagnose – Wie wird Migräne festgestellt?


Die Diagnose orientiert sich an den Kriterien der International Headache Society (IHS) und der aktuellen AWMF-Leitlinie (030-057, 2024).


Typische Schritte sind:

  • Krankengeschichte: Häufigkeit, Dauer, Begleitsymptome.

  • Kopfschmerztagebuch: unverzichtbar, um Muster zu erkennen.

  • Körperliche Untersuchung und neurologische Tests. Evtl. Überweisung an Neurologie/MRT.

  • Ausschluss anderer Ursachen, etwa Infektionen oder Tumoren (sehr selten).



6. Ursachen und Vererbung


Migräne entsteht durch ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren.

  • Veränderte Reizverarbeitung im Gehirn: Geräusche, Licht oder Gerüche werden stärker wahrgenommen.

  • Botenstoffe wie Serotonin spielen eine zentrale Rolle, ihre Schwankungen wirken sich auf Blutgefäße und Schmerzwahrnehmung aus.

  • Gehirnnetzwerke zwischen Hirnstamm, Thalamus und Großhirnrinde arbeiten bei Migräne anders, was Begleitsymptome erklärt.

  • Triggerfaktoren wie Stress, Schlafmangel, bestimmte Lebensmittel oder Wetterwechsel können Attacken auslösen.

  • Migräne ist häufig erblich. Kinder von betroffenen Eltern haben ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko. Besonders stark ist die Veranlagung bei Migräne mit Aura. Wichtig ist: Vererbung bedeutet nicht Bestimmung, Umweltfaktoren und Auslöser entscheiden mit darüber, ob Migräne tatsächlich auftritt.



7. Behandlung im Anfall nach AWMF-Leitlinie


  • Nicht-medikamentös:

    • Ruhe in einem abgedunkelten Raum,

    • Kühlung von Stirn oder Nacken,

    • ausreichend Flüssigkeit,

    • Geborgenheit und Nähe,

    • Die Forschung zu Pfefferminzöl bei Migräneschmerzen im Kindesalter unter 6 Jahren ist bisher äußerst begrenzt. Vorliegende Studien beziehen sich überwiegend auf ältere Kinder und Erwachsene. Pfefferminzöllösungen (10 % in Ethanol) sind zur Behandlung von Spannungskopfschmerzen ab 6 Jahren zugelassen und zeigen eine Wirksamkeit, die mit Paracetamol vergleichbar ist (Göbel et al., 2016).

  • Medikamentös nach vorheriger Absprache mit Ärzt:innen:

    • Ibuprofen oder Paracetamol in altersgerechter Dosierung.

    • Bei starker Übelkeit kann ein Mittel gegen Erbrechen sinnvoll sein.

    • Triptane: nur für Jugendliche ab 12 Jahren und nach ärztlicher Abklärung.



8. Migräneattacken vorbeugen/ reduzieren


Ziel ist ein möglichst beschwerdefreier Alltag. Bewährt haben sich:


  • Regelmäßiger Schlafrhythmus, feste Mahlzeiten, ausreichendes Trinken, Bewegung.

  • Entspannungstechniken wie kindgerechtes Yoga, Atemübungen oder Progressive Muskelentspannung.

  • Psychoedukation: Kinder sollen verstehen, was Migräne ist, das nimmt Ängste und gibt Sicherheit.

  • Medikamentöse Prophylaxe: nur bei schweren und häufigen Attacken, unter fachärztlicher Begleitung.



9. Gemeinsam den Alltag mit Migräne gestalten


Migräne betrifft nicht nur das Kind, sondern die ganze Familie. Jeder Anfall bringt Unsicherheit, Sorgen und manchmal auch das Gefühl von Hilflosigkeit mit sich. Gleichzeitig bedeutet er, den Alltag immer wieder neu zu organisieren, sei es in der Schule, zu Hause oder in der Freizeit.


Doch mit Verständnis, guter Vorbereitung und liebevollen Strukturen kann Dein Kind lernen, sich trotz Migräne sicher und getragen zu fühlen. Auch für Dich als Elternteil ist es wichtig zu wissen: Du bist nicht allein, und mit kleinen, aber gezielten Schritten lässt sich der Familienalltag entlasten und das Vertrauen in die eigene Stärke wachsen.


  • In der Schule: Ein Notfallplan mit Lehrkräften ist wichtig. Rückzugsmöglichkeiten wie ein Krankenzimmer helfen.

  • In der Familie: Rituale, klare Strukturen und feste Einschlafzeiten geben Sicherheit.

  • Emotional: Zeige Verständnis und stärke Dein Kind darin, sich selbst zu vertrauen.

  • Geschwister: Beziehe sie mit ein, damit kein Gefühl der Benachteiligung entsteht.

  • Begleitung durch Facharztteam: Kindarztpraxis, Neurologen, SPZ etc.



10. Warum frühes Handeln wichtig ist


Unbehandelte Migräne kann chronisch werden. Auch ein Medikamentenübergebrauchs-Kopfschmerz kann entstehen, wenn Schmerzmittel zu häufig genommen werden. Frühzeitige und wirksame Therapie schützt Kinder davor, dass Migräne ihr Leben dauerhaft einschränkt.



Fazit – Mit Wissen und Fürsorge gemeinsam stark


Migräne bei kleinen Kindern ist oft schwer zu erkennen, besonders, wenn Bauchschmerzen oder unspezifische Symptome im Vordergrund stehen. Je früher Migräne diagnostiziert und behandelt wird, desto besser gelingt es, die Beschwerden zu lindern und die Lebensqualität zu sichern.


Als Eltern kannst Du viel bewirken: durch Verständnis, klare Strukturen, rechtzeitige ärztliche Abklärung und liebevolle Begleitung. So lernt Dein Kind, mit Migräne zu leben, ohne dass die Erkrankung das Leben bestimmt.





Stand: 09/2025

Ressourcen

  • Arruda, M. A., et al. (2010). Primary headaches in childhood – A population-based study. Cephalalgia.

  • Gelfand, A. A. (2015). Migraine in young children. Developmental Medicine & Child Neurology.

  • Göbel, H., et al (2016). Oleum menthae piperitae (Pfefferminzöl) in der Akuttherapie des Kopfschmerzes vom Spannungstyp. Der Schmerz, 30.

  • Marchese, F., et al. (2020). Migraine in children under 6 years of age: A long-term follow-up study. European Journal of Paediatric Neurology.

  • Mortimer, M. J., Kay, J., & Jaron, A. (1992). Epidemiology of headache and childhood migraine in an urban general practice using Ad Hoc, Vahlquist and IHS criteria. Developmental Medicine & Child Neurology.

  • Onofri, A., et al. (2023). Primary headache epidemiology in children and adolescents: a systematic review and meta-analysis. The Journal of Headache and Pain.

  • Raieli, V., et al. (2005). Recurrent and chronic headaches in children below six years of age. Journal of Headache and Pain.

  • Raieli, V., et al. (2015). Migraine in a pediatric population: a clinical study in children younger than 7 years of age. Developmental Medicine & Child Neurology.

  • Raieli, V., Antonina D’Amico, E. Piro (2020). Migraine in children under 7 years of age: a review. Current Pain and Headache Reports.

  • Rustichelli, C., et al. (2019). 33rd National Congress of the Italian Society for the Study of Headaches Naples (Italy), June 14 – 16, 2019. Neurological Sciences.

  • Torriero, R., et al. (2017). Diagnosis of primary headache in children younger than 6 years: A clinical challenge. Cephalalgia.

  • https://www.migraeneliga.de/kopfschmerzen-bei-kindern/

  • https://register.awmf.org/assets/guidelines/030-057l_S1_Therapie-der-Migraeneattacke-Prophylaxe-der-Migraene_2024-06.pdf


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